Gerade bei Einsteigern bemerke ich häufig die eigenen Zweifel, ob eine Übung oder Bild zu Hause denn „richtig“ geübt werden kann, die Angst, „etwas Falsches“ einzulernen, bzw. die Unsicherheit darüber, ob „es richtig“ gemacht werde.
Grundsätzlich: Es ist allemal besser, etwas überhaupt zu üben (zu machen), als (mit dem Vorwand? …für sich selbst?) besser nichts zu tun, um ja nichts falsch zu machen.
Hier zeigt sich aber auch unterschwellig eine kleine Problematik unserer westlichen Kultur: Das Verständnis und der Umgang mit der Perfektion.
Motto: „Wenn ich etwas mache, dann möchte ich das – bitteschön – auch ‚richtig‘ machen – Ansonsten lass‘ ich es lieber!“
ABER: Das meinen die Chinesen nicht mit der in Tai Chi oder auch in anderen (klassischen) Künsten angesprochenen „Perfektion“!
Jene ist individuell(!) und absolut zeitpunktbezogen(!) – daher nicht unbedingt immer mit anderen vergleichbar und meßbar und hat absolut nichts mit „richtig“ oder „falsch“ zu tun!
Wir im Westen denken im Gegensatz dazu oft: Wenn es „richtig“ ist, ist es „perfekt“. Wenn es eben in unserem Sinne nicht „korrekt“ ist – immer im Vergleich zu anderen(!) – dann kann es daher folgerichtig nicht perfekt sein. Hier leben und agieren wir absolut „im Äußeren“ (der „Außenwelt“, dem Mechanischen, dem Körperlichen)!
Genauso wird vom Anfänger eine Form im Tai Chi Gung betrachtet – äußerlich, körperlich. Das korrekte Nachvollziehen der Bewegungsabläufe laut der Beschreibung oder den Vorgaben des Trainers wird zum Maßstab für die eigene(!) Perfektion.
Das ist zwar wichtig und notwendig – um die Bilder und Form(en) zu erlernen – aber „falsch“ für die Beurteilung des eigenen Fortschritts!
Verwirrt? – Verständlich, denn die Lösung lautet: „Korrekt“ ist nicht gleichzusetzen mit „Perfektion“!
Im klassischen Sinne der chinesischen Meister ist „die Perfektion“ ein sich ständig, tagtäglich zu wiederholender Prozess von „Gung“ (übersetzt: „sich bemühen um“), welcher genau – für heute und NUR DA! – enden kann, sobald „man für sich selbst“(!), „das Beste in der geübten Kunst“ erreicht hat!
Es ist ein „innerer Zustand“ („innerer Wert“), den man HEUTE(! ! !) erreicht hat.
Motto: „Heute (jetzt!!!) – ist es FÜR MICH p e r f e k t !“
Der westliche Mensch, der Tai Chi Gung übt, könnte sich also fragen:
„War es (jetzt) für mich(!) richtig?“.
Der Maßstab der Perfektion setzt sich also für den Übenden aus zwei Komponenten zusammen:
- den „Äußeren“:
Entspricht dies, was ich tue oder getan habe, (den objektiven Vorgaben) der Kunst (des Stiles, des Vorbildes)?
sowie - den „Inneren“:
Bin ich – für heute(!) – zufrieden, mit dem, was ich tue oder getan habe UND fühlt es sich gut an, bzw. fühlte ich (genug) dabei?
Wichtig dabei:
- für „Kopfmenschen“:
Auch wenn eine Übung „korrekt“ nach dem/einen Vorbild „erledigt“ wäre, heisst das noch lange nicht, dass jene „perfekt“ wäre – sie ist es erst dann, wenn dies auch gefühlt wurde!
und - für „Ängstliche“ bzw. „Übervorsichtige“:
Auch wenn Du nicht alles „korrekt dem Vorbild entsprechend nachvollziehen“ konntest, Du Dich aber darum bemüht hast, „das Beste“ (Anm.: für Deine Verhältnisse) zu erreichen, Du Dir selbst „eine Steigerung der Kenntnisse/Fähigkeiten“ bestätigen kannst UND Du Dich dabei wohlfühlst, DANN hast Du „die Perfektion“ erreicht! …für heute!!!
Und was vielen (noch) Rätsel bereitet:
Auch wenn „die Perfektion“ heute erreicht wurde, heisst dies noch lange nicht, dass dieser „Zustand“ – morgen, das nächste mal, – „automatisch“ wieder zustande kommt, oder gar „vorhanden“ wäre.
Die Perfektion muss jedes mal (jeden Tag) auf’s Neue errungen werden – egal wie „fortgeschritten“ man sein mag!
Das ist – für manche: die Krux – für andere: genau der Sinn der Übung in chinesischen (fernöstlichen) Künsten.
Mit anderen Worten: Neuer Tag – Neues Spiel.
(…oder wie ein durch die Werbung bekannter Spruch lautet: „Der Weg ist das Ziel!“)
Fazit:
Nur wer nicht übt, erreicht keine Perfektion! –
Der „Wert“ liegt in der Übung und in der Perfektionierung des eigenen Fortschrittes, niemals im Vergleich zu anderen.
„Richtig“ oder „Falsch“ werden anders besetzt, beispielsweise: „Richtig“ = „es hat MIR etwas gebracht“ – „Falsch“ = „es hat mir nichts gebracht, ich bin weder innerlich, noch äußerlich ‚weitergekommen'“.
Alle Bilder, Bewegungen, …, Formen sind letztendlich nur(!) Hilfestellungen („Vorgaben“), um die eigene Perfektion in der Kunst des Tai Chi Chuan (Taijiquan) bzw. Tai Chi Gung zu erlangen – nicht mehr!
ABER auch nicht zu vergessen: Sie beinhalten die über Jahrhunderte(!) gepflegten und ständig erweiterten Erfahrungen und Erkenntnisse der Meister und Praktizierenden dieser Kunst – an welchen man sich orientieren und sie (vorerst) annehmen KANN!
(Sprich: Wer würde schon freiwillig auf das Rad verzichten und etwas neues erfinden?)
Tipps für Anfänger und Einsteiger:
- Orientiere Dich ruhig an dem, was Du bereits selbst „erlernt“ hast und „bediene“ Dich ruhig der (uralten) Erfahrungen (ich meine: „Vorbilder“, also „Ideale“ nicht „Idole“, o.k.?)
- Fange mit kleinen Schritten an (Grundstellungen, Grundposition, Kräftigung der Beinmuskulatur, Vorbereitungsübungen) und freue Dich an Deinen Erfolgen
- Wenn Dir etwas „falsch“ erscheint, dann probiere ruhig einmal eine für Dich geeignete „leichte Änderung“ (in der Stellung, in der Bewegung, im Bild), frage aber bei „Erfahrenen“ sobald wie möglich nach
(Merke: Erkenntnis ist immer ein Prozess, wo eine zuvor „falsche“,alte Annahme durch eine neue, aktuell „bessere“ ersetzt wird)
- Wenn Du eine Übung machst und Du „spürst“ nichts, dann kannst Du mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass Du diese nicht korrekt ausgeführt hast
- Die rein mechanische, körperliche Ausführung einer Form ist „leer“, „die Perfektion“ erreichst Du nur, wenn Du diese auch „füllst“ (Frage Deinen Trainer, was darunter zu verstehen wäre, falls Du hiermit Probleme hast)
- Wenn Du Dich nach Beendigung einer Übung „gut“ fühlst, dann ist das „perfekt“ (…unabhängig davon, ob Du Dich währenddessen, weil diese vielleicht neu oder noch ungewohnt ist, enorm anstrengen musstest)
- Frage Dich selbst während der Ausführung von bestimmten Bewegungen, ob Du hierbei auch das fühlst, was Du (laut Anleitungen) auch fühlen solltest, ansonsten mühst Du Dich vergeblich; Ändere dies indem Du Bewegungen mit dem Vorbild vergleichst und jenem genauer zu folgen versuchst und frage Deinen Trainer – hilft dies trotz Deiner Bemühungen und Zeiteinsatz auch nicht weiter und es ergeht Dir im Großteil der Übungen so, dann wechsle den Trainer oder das Vorbild (sprich: Stil oder Form)
- Bleibe dennoch geduldig mit Dir selbst und anderen (bedenke: nicht jeder Tag oder Tageszeit ist gleich)
Dieser Artikel gefällt mir sehr gut, denn er stellt meiner Meinung nach die Grundessenz dar, um Tai Chi wahrhaftig zu erlernen. Es gibt verschiedene Niveaus und man steigert sich langsam von Einem zum Nächsten je nach Erkenntnis. Irgendwann ist man dort wo man hinwill, doch dort ist dann die nächste Ecke um die man schauen will.
Lg Markus