(aus der Serie: Irrtümer über Tai Chi, erstmals erschienen auf mein.salzburg.com am 10. Mär 2010 um 11:43 in Fitness)
Weil die Einzelübungen oder (Solo-)Formen möglichst langsam, sowie präzise geübt und ausgeführt werden, denkt man sicher, dass „alles“ bei Tai Chi (Chuan) langsam wäre.
Vor allen Dingen meint die Allgemeinheit im Bezug auf den Kampfkunstaspekt: „Wie soll man sich hiermit – mit den langsam geübten Bewegungen, Stellungen und Positionen – wirkungsvoll verteidigen? Das funktioniert doch gar nicht!“ …und irrt gewaltig.
Randbemerkung: der Vater von Bruce Lee (1940-1973) war Tai Chi – Lehrer und „Straßenkämpfe“ in Hongkong oder Taiwan werden im Grunde „mit“ Tai Chi Chuan „erledigt“. Wir sagen laienhaft „Kung Fu“ dazu.
Aber diese beiden Wörter („Kung Fu“) bedeuten übersetzt eigentlich nur: „das tagtägliche, obsessionslose beschäftigen mit“.
Bleibt die Frage: „Mit was?“ – Mit jener Kunst oder auch „Philosophie“ („Lehre“, allgemein), welche als Bezeichnung „davor“ steht, korrekterweise also: „Tai Chi Kung Fu“, „Shaolin Kung Fu“, oder „Wudang Kung Fu“ etc.)
Ein Spruch in der Tai Chi – Welt (Kampfkunstaspekt): „Beweg Dich nicht, bis Dein Gegner sich bewegt, aber beweg Dich dann schneller“.
Wie soll das also funktionieren (wenn ich „nur“ langsam trainiere)?
Ganz einfach: die Erklärung lieferte schon Moshé Feldenkrais (1904-1984), die Feldenkrais-Methode, ebenso wie aktuelle Studien über die Trainingseffekte beim „Einsatz der Langsamkeit“
(Dieser Bereich wurde auch in Beitrag →„Irrtum 4: Langsames Training bringt keine Kraft“ erläutert).
„Verinnerlichte“ und „automatisierte“ Bewegungsabläufe können – vor allem in Grenzsituationen – auch blitzschnell(!) ausgeführt werden, wobei diese nichts(!) an Präzisision verlieren, da ja „ständig“ und „ausschließlich“, langsam(!), mit Präzision trainiert wurde!
Dies ist eine ebenso faszinierende, wie bemerkenswerte Erfahrung, welche jeder(!) Tai Chi Trainierende früher oder später am eigenen Leib erfährt, selbst dann, wenn er bisher sämtliche Bereiche des Kampfkunstaspektes bei seinem Training „ausgeblendet“ oder „ignoriert“ hat.
Beispiele: Ein drohender Sturz wird „wie durch ein Wunder“, sozusagen im letzten Moment, innerhalb von Sekundenbruchteilen, selbst „abgefangen“. Man fängt einen Gegenstand, der auf den Boden zu fallen droht, „irgendwie“ locker und leicht ab. Oder man „fängt“ eine andere Person – spontan, ohne Nachzudenken – plötzlich vor drohendem Sturz. Oder: man „blockt“ „spontan“ den ungewollten Griff einer Person, usw.
Dies alles „zeigt“ sich selbstverständlich erst nach einer gewissen, regelmäßigen Zeit des Tai Chi (Chuan) – Trainings und ganz sicher nicht nach ein paar Stunden oder Tagen des Praktizierens. Dann aber wird dem Betreffenden erst richtig klar, warum Tai Chi durchaus auch als Kampfkunst angesehen wird – auch wenn selbiger vielleicht in jenen obig genannten Situationen erst von der Umgebung darauf aufmerksam gemacht werden musste: „Hey, wie hast Du das jetzt gemacht?“.
Aber selbst dann bleibt leider manchem mangels Beachtung des Kampfkunstaspektes oft noch verborgen, dass beispielsweise die „Wolkenhände“ durchaus eine Abwehrbewegung darstellen (können!).
Ein anderer Bereich sind die sogenannten „Waffenformen“ (Tai Chi Chuan mit Stock, Speer, Schwert, Säbel oder Fächer).
Hier erkennt der Trainierende, sowie auch Zuseher, relativ rasch, dass keineswegs „alles langsam“ ist.
Obwohl beim Einüben der Waffenformen ebenso Einzelbilder (Figuren, Abläufe, Positionen) langsam und präzise erlernt werden, wird bei Ausführung der →Form (= vordefinierte kontinuierliche Abfolge von Bewegungen, also „→Bildern“ oder „Figuren“, vergleichbar mit einer „Kata“ beim Kampfsport Karate) diese meist „in Echtzeit“ – also: wie bei einem tatsächlichen Kampf – ausgeführt. Und dies bedeutet auch, dass manche Bewegungen so rasch aufeinander folgen, dass ein zusehender Laie kaum mehr Unterscheidungen vornehmen kann!
Eine Waffenform beweist somit einem Betrachter, dass auch beim Training von Tai Chi Chuan keineswegs alles langsam ist – nur „sieht“ man dies hierzulande (noch) viel zu selten.