Serie: 100 Meistersprüche zu Tai Chi – Teil 015

100 Meistersprüche zu Tai Chi – Aussage 15


Meisterspruch 015:

Wang Tsung Yueh über den Kampfaspekt:

„Wir stehen wie eine ‚ausbalancierte Waage‘; wenn der Gegner sich gegen unsere linke Seite wendet, soll diese ‚leer‘ werden. Das gleiche gilt für die rechte Seite. Er findet eine ‚Leere‘, die kein Ende nimmt“.

(→Klassische Schrift über Taichi).


Hintergrundinfo:

Wang Tsung Yueh, manchmal auch geschrieben: Wang Zongyue, war eine legendäre Figur in der Geschichte des Tai Chi Ch’uan (Taijiquan). In einigen Schriften wird Wang als ein berühmter Schüler des legendären →Chang San-Feng (Zhang Sanfeng) genannt, jenes taoistischen Mönchs aus dem 13. Jahrhundert, welchem die Entwicklung von Tai Chi im Besonderen zugeschrieben wurde.
Wang soll Mitte des 15. Jahrhunderts im Landkreis Tai-Gu in der Provinz Shan Xi gelebt und im taoistischen Tempel Jing-Tai im Landkreis Bao-ji eine frühe Form des Tai Chi gelernt haben.
Eben jener Wang soll die Tai Chi-Abhandlung(en) verfasst haben, die angeblich von den Wu-Brüdern Mitte des 19. Jahrhunderts im Rahmen der „Salt Shop Manuals“ in Peking gefunden wurde. Diese Sammlung enthält viele t’ai chi Sprichwörter; unter ihnen: „vier Unzen lenken eintausend Pfund ab“ und „eine Feder kann nicht hinzugefügt werden, noch kann eine Fliege landen“. Die Tai Chi-Abhandlung gehört zu einer Literatur, die von vielen Tai Chi Chi-Schulen gemeinsam als „Tai Chi-Klassiker“ (bzw. „Klassische Schrift ueber Taichi“) bezeichnet werden.
[Welches wir bereits mehrfach angesprochen hatten.]

Anmerkung:

Die Überlieferung des Vergleiches mit der „ausbalancierten Waage“ im Kampf, stellt einen „Verteidigungsaspekt“ dar.
Eine vom Angreifer erzeugte und an dessen Gegner gerichtete, physische Kraft kann keine Impulsübertragung auslösen und somit „keinen Schaden“ anrichten, wenn jene beim „vorgesehenen“ Empfänger keinen Widerstand erfährt.
Sprich: Was soll ein „harter“ Faustschlag oder Fauststoß anrichten, sobald dieser „auf Watte“ trifft?
bzw. laut jener Aussage noch ultimativer formuliert: Was soll jener Stoß, Schlag etc. ausrichten, wenn dieser auf noch weniger Widerstand als Watte, nämlich: „Leere“ trifft?

Bei der praktischen Anwendung bzw. bei der „Auslegung“ des Meisterspruches zur Praktischen Anwendung, scheiden sich selbstverständlich die Anleitungen der Folgegenerationen von Tai Chi – Meistern.

Kommentar:
Das liegt natürlich auch in der →Ambiguität schriftlich erfasster chinesischer Aussagen.

Zum einen erreicht man „diesen Effekt“ durch „Nachgeben“ (→Ba Gua: „Berg“ fällt in „See“), zum anderen durch „Ableiten“ (Ba Gua: „Wind“).

Und schlichtweg auch – bitte auch nicht zu vergessen: „Nicht da sein“ – also: „Ausweichen“!
(…so kann nämlich ebenfalls: „Leere, die kein Ende nimmt“ gesehen werden) – Wenn der Gegner immer dorthin schlägt, wo „schon lange“ nichts oder niemand mehr ist –
ebenso erklärt sich: „keine Fliege landen kann“!

Die Sensitivität ist so hoch, dass sobald der Taichianer spürt, dass eine Fliege im Anflug ist, bzw. einen Arm „nur ganz sacht berührt“, die „Landefläche“ (der Arm) schon weg ist!

Exkurs:
Auf jene hohe(!) „Sensibilisierung der Sinneseindrücke“
(wir sprechen im Tai Chi Gung – Landessportverein hierbei von „Sensitivität“ [in der Definition – allgemeine Biologie: Empfindlichkeit von Menschen, Tieren, Pflanzen, Nervenzellen, Systemen für Umweltreize])
wird genau mit jenen chinesischen Vergleichen über „eine Unze“, „eine Feder“, „eine Fliege“, „eine (extrafein geeichte) Waage“ hingewiesen.

Anekdote von Iréne-Katrin Hollaus, 1. Österreichische Meisterin in Tai Chi Gung, als sie noch Karate-Training machte und schon in Tai Chi weiter fortgeschritten war:
Beim Kumite („Zweikampftraining mit Körperkontakt“) mit einem Träger eines höheren Gurts, war jener bald ziemlich frustiert. Ein Trainer bemerkte dies und fragte, was denn los sei. Antwort des Gegners von Iréne: „Das macht einfach keinen Spaß mehr, ‚die‘ tut so anders, ich weiß nicht warum, ich kann keinen einzigen Treffer landen. Wir sollen doch angreifen und blocken üben, aber sie is immer weg und ich spüre nix, wenn ich sie mal erwisch!“ – Iréne: „öha – soll i mi hauen lassen, oder was? – i verteidig mi ja doch!“

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