Der Tai Chi – Begriff „song“

Glossareintrag: song

Die Meister der Vergangenheit (u.a. in den →Salt-Shop-Manuals) benennen einen bestimmten, durch fortgesetztes Praktikum des Tai Chi immer besser und schneller erreichbaren körperlichen Zustand, gepaart mit einer Verhaltensweise sowie „Gemütsverfassung“, also auch einen „Wesenszug“, mit „song“.

„Song“ dürfte mit Abstand als einer der wichtigsten Begriffe im Praktikum Tai Chi Chuan (Taiji-Quan) gelten. Zweifellos gehört er aber auch zu den am häufigsten vernachlässigten und missverstandenen Vorstellungen der inneren Kampfkünste, weil dieser meist schlicht nur mit dem Wort „Entspannung“ übersetzt und verbunden wird.

Selbstverständlich lernt man als westlicher Mensch – früher oder später(!) – beim Praktikum von Tai Chi, dass alle(!) Bewegungen einer →Form im enspannten Zustand ausgeführt werden sollen.

Wobei: „Entspannung des Körpers und der Muskulatur“ entspricht dabei nicht jener westlichen gepflegten Vorstellung, sich mit geschlossenen Augen einfach der Schwerkraft hinzugeben oder „kraftlos in sich zusammensinken“ – sofern der Lehrer sich nicht im Vermitteln einer Vielzahl von Bewegungsabläufen verirrt und ebenso nicht darauf vergisst, dabei auch den (Bewegungs-)Tonus und das Verhalten seiner Schüler genauestens zu reflektieren.

Es wird also „irgendwie klar“ (früher oder später), dass man sich „entspannen“ muss, um Tai Chi – Bewegungen „richtig“ ausführen zu können.

Leider vergessen viele im Westen tätige Lehrer dabei, allein jenes essentielle „Kernverhalten“ bei Anfängern zu betonen oder verstärkt zu schulen, da es als „selbstverständlich im Tai Chi (Chuan)“ betrachtet wird.

Dabei ist song die entscheidende funktionale Grundlage aller „Energieanwendungen“ des Tai Chi (Chuan)!

Das chinesische „song“ bezieht sich aber nicht nur auf den „Entspannungszustand“, sondern meint zugleich:

  • einen enstpannten Körper- und Geisteszustand, gepaart mit
  • erhöhter Wachsamkeit,
  • erhöhter Sensibilität,
  • Beweglichkeit und Leichtigkeit,
  • bei bewusstem, sparsamen Umgang mit Energie.

Es gibt hierfür keinen westlichen oder deutschen Begriff und es kann daher nur umschrieben werden.

Exkurs:
Deshalb sollte „song“ ebenfalls „unübersetzt“ bei Tai Chi Gung verwendet werden.

Aspekte von „song“:

-) Katzenverhalten

„song“ könnte umschrieben werden mit „Katzenverhalten mit Energiesparmodus“.

Das Verhalten einer Katze liefert das beste Beispiel für „song“ und „gelebtes Tai Chi“:

Erhöhte Wachsamkeit, Sensibilität, Beweglichkeit und Leichtigkeit, gepaart mit einem bewussten, sparsamen Umgang von Energie.

-) Physisch

Sicherlich haben viele Menschen schon einmal beobachtet, dass eine schlafende Katze – meistens handelt es sich aber eher um einen „Standby-Energiesparmodus“ anstelle von Schlafen – blitzschnell hellwach ist, wenn beispielsweise ein Maus vorbeiläuft. Die Katze scheint im tiefsten Schlaf, ist aber trotzdem immer wachsam.
(Weitere Beispiele finden sich unter „Katzenbeobachtungen“ bei Meisterspruch 74 – Link: →http://www.taichianer.at/serie-100-meistersprueche-zu-tai-chi-teil-074-katzenbeobachtungen/ ).

Der körperliche Aspekt von song ist also tiefe Entspannung aller aktuell nicht beanspruchten, nicht aktiv bewegten Körperteile, Gelenke, Muskeln und Sehnen.

Damit deren „wirkliche Entspannung“ überhaupt stattfindet und in Folge bewusst selbst hergestellt werden kann, bedarf es zuvor einer Schulung der Sensibilisierung für das eigene Körperempfinden und eines Bewusstseins für die →Tiefensensibilität (Kenntnis, Wahrnehmung, Vertrauen in →Propriozeption).

Des weiteren ist damit auch der „Einsatz von (An-)Spannung und Entspannung“ gemeint und erhält in Verbindung mit „von yin zu yang werden, um damit wieder zu yin zu gelangen“ ebenso ein geistige/mentale Komponenten.

Übungsmöglichkeiten bieten dafür für Anfänger/Einsteiger beispielsweise „→Die Progressive Muskelentspannung„, um überhaupt einmal den Unterschied von Spannung und Entspannung bei manchen Körperteilen feststellen zu können, sowie „Meditationstechniken für Anfänger“.

Dies führt schließlich zu:

-) Mental, geistig, emotional

Jene Meditationsübungen (für Anfänger) können durchaus von anderen Disziplinen (Yoga: Prana-Yama, Autogenes Training, Atemübungen des Buddhismus, etc. pp.) entlehnt werden, um die „Körper-Seele-Geist – Einheit“ einmal und sei es nur kurz, in Einklang zu bringen, sowie überhaupt „eine Ahnung“ zu erhalten, was mit „→Meditation„, „Fokussierung“, „Kontemplation“, „Visualisierung“ (→Imagination) eigentlich gemeint ist und wie sich dies „auf den Allgemeinzustand“ auswirkt.

Natürlich: Dies alles hat „anscheinend“ noch nichts mit Tai Chi zu tun – So glauben die Unwissenden und „drängen“ die Trainer dazu „mehr Form(en)“ zu machen.

Aber nochmals zur Erinnerung: „Vollkommene Entspannung“ ist eigentlich eine der Grundvoraussetzungen(!), um Tai Chi – Bewegungen überhaupt(!) „richtig“ ausführen zu können.

Dies alles führt zum…

-) Meditationsaspekt von song.

Der Meditationsaspekt führt wiederum zur Veränderung der Atmung (→Atem-Aspekt), sowie zur Veränderung der „inneren“ Haltung, der Einstellung und des Verhaltens allgemein (siehe dazu auch: →Innere Kampfkunst ).

Fortgesetzte Meditation führt zu „mehr Entspannung“ (körperlich und mental), sowie zu Gelassenheit und „Ruhe“.
„Gelassenheit“ wiederum erzeugt eine spürbare Beruhigung der Emotionen und eine friedliche Geistesverfassung („→mentale Disziplin„).

Eine Verhaltensweise, welche als „Grundmotivation“ oder „Einstellung“ eines Menschen als „Wesenszug“ gelten kann, bildet schließlich den „Charakter“.

-) Habitus und Charakter

Definition „Charakter“ (lt. Google Oxford Languages):


1. individuelles Gepräge eines Menschen durch ererbte und erworbene Eigenschaften, wie es in seinem Wollen und Handel zum Ausdruck kommt […]

also dessen „gepflegter“, „gelebter“ Habitus.

Defintion „Habitus“ (lt. Google Oxford Languages):


1a. Bildungssprachlich
Gesamterscheinungsbild einer Person nach Aussehen und Verhalten
’seinem Habitus nach war er Künstler‘
1b. Bildungssprachlich
[auf einer bestimmten Grundeinstellung aufgebautes, erworbenes] Auftreten; Haltung, Benehmen, Gebaren

„song“ bezeichnet also gleichfalls einen Wesenszug – eine Charaktereigenschaft und einen Habitus – eines Menschen, sobald jener dies nicht nur während der Trainingsstunden erreicht, sondern auch im (alltäglichen) Leben „ist“.

siehe oben: „…erworbene Eigenschaft, wie es in seinem Wollen und Handeln zum Ausdruck kommt“.

Jener Wesenszug könnte wiederum mit der Meisterschaft im Buddhismus verglichen werden: Das Erreichen und Bewahren des „Zustandes der heiteren Gelassenheit“.

„song“ bezeichnet also auch den „nachhaltigen Zustand“ einer bewussten, feinfühligen Entspannung („innen“ wie „aussen“) gepaart mit voller Achtsamkeit (ebenso: „innen“ wie „aussen“).

„song“ ist damit auch ein wahrzunehmender „Eintwicklungszustand“ und „Auftreten“ eines Menschen, welcher bestimmte Verhaltens-Kriterien zeigt.

Schlussbemerkung

Wahre Meister der Kampfkünste erkennt man an „song“ als deren Habitus.

 

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