Ein Schüler fragt:
Wann lernen wir in Tai Chi endlich eine Technik, die man im Kampf auch anwenden kann – so wie bei Karate oder zur Selbstverteidigung?
Antwort: Von Anfang an – Seit Du da bist, machen wir nichts anderes.
Schüler: Wie jetzt? – Das kapiere ich nicht.
Antwort: Genau das ist das Problem. Du denkst in Mustern, wie etwas zu sein hat, welche Du von anderswo übernommen hast. Aber ein Kampf folgt nie einem vorgegebenen Schema – Doch das ist ein anderes Thema.
Erinnere Dich: Tai Chi kennt keine Einzeltechniken, höchstens Metabeschreibungen, welche wir auch in Tai Chi Gung der Einfachheit halber als Grundtechniken bezeichnen.
Schüler: Ja, aber, wo lerne ich jetzt wie ich das in einer Bewegung einsetze?
Antwort: Hier und jetzt, sobald Du Dich geistig von vorherrschenden Mustern und ihren körperlichen Entsprechungen gelöst hast.
Wir lehren, lernen und trainieren Bilder als Bewegungsfolgen in einem harmonischem Ablauf.
Sobald Du ein Bild – wirklich – beherrscht, kannst Du es auch auf vielfältige Art und Weise im Kampf einsetzen. z.B.: Wolkenhände.
(Details dazu auch: TI_U04_Einzeluebung_Wolkenhaende.pdf )
Schüler: Das verstehe ich nicht.
Antwort: Genau deshalb scheiterst Du auch noch daran, Dir auch vorzustellen, dies in einer Kampfsituation tatsächlich einsetzen zu können. Erlaube eine Gegenfrage: Seit wann üben wir Wolkenhände?
Schüler: Seit ich dabei bin – fast jede Trainingseinheit.
Antwort: Was machst Du bei diesem Bild?
Schüler: Ich stelle mich so hin (Anm.: Steht in Wu Chi, winkelt den rechten Arm an, hebt die rechte Hand halb vor das Gesicht, führt den linken Arm angewinkelt vor die linke Hüfte – beide Handflächen zeigen nach vorn), dann verlager ich das Gewicht nach rechts, gleichzeitig drehe ich dabei die Hüfte, führe nun die rechte Hand im Halbkreis nach unten und die linke Hand kreisförmig nach oben – dann geht das ganze in die umgekehrte Richtung zur anderen Körperseite usw. usf.
Antwort: Ja gut – wie würdest Du das ganze im Kampf einsetzen?
Schüler: ??? (schaut ratlos).
Antwort: Gut, ich werde Dir ein paar Beispiele in der Terminologie „äußerer“ Kampfkünste geben.
Bedenke dabei, es handelt sich nur um das eine Bild – Wolkenhände!
(stellt sich in Wu Chi hin – Ausgangsposition Wolkenhände – Bewegung nach rechts): Das wäre ein Doppelblock – Arm oben, Arm unten.
(wiederholt die Bewegung und stellt dabei die rechte Handfläche in der nach rechts kreisenden Bewegung auf):
Das wäre ein Handkantenschlag nach rechts.
(bleibt rechts stehen und führt den Ablauf zur linken Körperseite aus, wobei die linke Hand „Kniestreifen“ durchführt und die rechte Hand aufgestellt wird):
Das wäre ein Stoß mit der rechten Hand, zeitgleich mit einem tiefen Block mit der linken Hand.
(bewegt sich wieder nach rechts und lässt dabei den rechten Arm angewinkelt vor dem Oberkörper stehen):
Das wäre ein rechter Ellbogenstoß mit gleichzeitigem tiefen Block der linken Hand.
(bewegt sich wieder nach links, bildet mit der rechten Hand eine Faust, welche vor dem Gesicht von rechts oben nach links unten kreist):
Das wäre ein Faustschlag, Hammerfaust, mit der rechten Hand, begleitet von einem Block.
(bewegt sich wieder nach rechts, kreist mit der rechten Hand, bildet mit der linken Hand eine Faust, welche der Bewegung folgend nach rechts stoßt):
Das wäre ein hoher Block zur Seite, gleichzeitig mit einem Fauststoß der linken Hand zur Körpermitte eines seitwärts stehenden Gegners.
Das sollte als Demonstration als erstes genügen.
Übe „Wolkenhände“ im Stand, im Vorwärtsgehen, im Seitwärtsgehen mit parallelen Schritten und im Kreuzschritt. Wird ein einzelnes Bild auf diese Art und Weise geübt, dann nennt man dies →Danlian.
Die Chinesen sagen: „Trainiere ein Bild 10.000 mal bis Du es auch als Kampfkunst beherrscht.“
Schüler: Na super – wie soll ich das je schaffen?
Antwort: Du fährst Auto, richtig? – Mit Handschaltung, kein Automatikgetriebe?.
Schüler: Ja.
Antwort: Wie oft hast Du im vergangenen Jahr dabei einen Gang eingelegt, bzw. einen Gang gewechselt?
Schüler: Das weiß ich wirklich nicht – unzählige Male. Das macht man ja ständig, wenn man mit dem Auto unterwegs ist. Ich habe nicht mitgezählt, das macht man ja automatisch.
Antwort: Ja, genau! – Man könnte also sagen: Die dabei notwendigen Bewegungsvorgänge zur Bedienung von Kupplung, Schalten, Gaspedal, sind Dir „in Fleisch und Blut“ übergegangen. Oder anders formuliert:
„Du beherrscht das im Schlaf“ – Du machst dies völlig automatisch, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden.
Aber wie hat dies begonnen? Wie bist Du dazu gekommen? – Denke mit mir gemeinsam einmal darüber nach: Anfangs musst Du Dir jede Bewegung erarbeiten. Du machst Fehler, Du vergisst etwas und es
funktioniert nicht richtig. Du musst darüber nachdenken, Du musst Dich auf die Bewegung und die Abläufe konzentrieren und das ist natürlich anstrengend und fordernd. Aber Du machst trotzdem weiter, weil Du ja Autofahren möchtest und Du weisst, dass dies notwendig ist. Irgendwann verschwendest Du keinen Gedanken mehr daran, sondern machst es einfach.
In der Kampfkunst, nicht nur in Tai Chi, verhält es sich ähnlich.
In Tai Chi, weißt Du noch vieles nicht, was notwendig ist – also musst Du hier Deinem Lehrer vertrauen.
Ein kleiner Trost für Dich: Die Aussage „mit 10.000 mal“ kann, wie alle Aussagen Chinesischer Meister, auch metaphorisch gesehen werden. Mit der „Welt der 10.000 Dinge“ bezeichnen die Chinesen auch den Kosmos, die Welt und alles was darin existiert.
Übertragen könnte man nun sagen: „Übe ein Bild solange, bis es Teil Deiner Realität, Deines Kosmos, geworden ist.“
„10.000 mal“ ist dann nicht als exakte Maßzahl der Übungswiederholungen zu betrachten, sondern als Hinweis darauf, dies solange zu üben, bis es zur Selbstverständlichkeit in Deinen Bewegungen und Verhaltensweisen geworden ist.
Eben genauso, wie Du Handlungen zum Fahren mit Deinem Auto ausführst: Immer wieder, automatisch, ohne lange darüber Nachzudenken – Du „bedienst“ Dein Auto und machst im richtigen Moment genau das Richtige.
Natürlich wäre es auch möglich, wie in anderen Kampfsportarten, einzelne, von einem Gesamtablauf losgelöste Einzelbewegungen zu üben: Einen Faustschlag mit der linken Hand, einen Fauststoß mit der rechten Hand, ein Tritt mit dem linken Fuß, eine Konterbewegung mit der einzelnen Hand, usw.
Um bei dem Vergleich mit dem Auto zu bleiben: Das würde bedeuten, Du setzt Dich in einen Raum auf einen Stuhl und übst „Gang schalten“, bis Du diesen einzelnen Vorgang perfekt beherrscht. Viel schöner ist es jedoch, im Freien, recht bald mit dem Fahren anzufangen und dabei auch noch das Auto und die Umgebung mitzubekommen, oder? Nebenbei bemerkt – Was ist sinnvoller: „Gang schalten“ zur Perfektion zu bringen, oder mit einem Auto zu fahren?
Ich denke: Den einzelnen – durchaus notwendigen – Bewegungsablauf möglichst rasch in den Gesamtvorgang harmonisch einzubinden und diesen Gesamtablauf zu beherrschen ist wesentlich sinnvoller, als nur Teile davon zu perfektionieren.
Und das ist auch das Schöne an Tai Chi: Du übst nicht bloß einen einzelnen Schlag, ein einzelnes Konter, eine bestimmte Angriffs- oder Selbstverteidigungstechnik, sondern allein schon mit jedem Bild einen harmonischen Gesamtablauf, der Dich gleichzeitig mit einer Vielzahl von Anwendungsmöglichkeiten ausstattet, Deinen Geist bereichert, Dein Gemüt beruhigt, Deinen Körper gleichzeitig flexibel und stark macht, Deinen Chi-Fluss anregt und Deiner Gesundheit dient – ohne ständig an „kämpfen müssen“ zu denken oder Dir auch nur vorstellen zu müssen, Dich in einer Kampfsituation zu befinden.
Und dennoch lernst Du auch zu kämpfen – völlig automatisch, ich möchte fast sagen: völlig nebenbei – falls Du dies einmal benötigen solltest.
Mein Vorschlag: Befreie Deinen Geist von allen Vorstellungen und übernommenen Meinungen, wie ein Kampfkunsttraining auszusehen hat.
Die Chinesen sagen: „In einen vollen Becher kann kein Wein nachgeschenkt werden“.
Leere Deinen Becher! Dann bist Du bereit, Neues aufzunehmen.
Übe die Tai Chi – Formen so, wie sie Dir überliefert werden, bis Du diese „in- und auswendig“ kannst. Danach(!) kannst Du Dir Gedanken machen, wie Du die Bewegungen einsetzen könntest, falls Du in eine Kampfsituation gelangen würdest – falls Du dies möchtest.
Tipps:
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Ein Mitglied der Polizei sagte einmal zu mir: „In einer Auseinandersetzung läuft ein Film ab bei dem man mitspielt. Da ist kein Denken oder Steuern.“
Ist vermutlich ähnliche Aussage wie die die hier gemacht wird.