Chinesische Arbeitsmodelle im Tai Chi

Glossareintrag: Arbeitsmodelle in Tai Chi
Glossareintrag: Energie und Modell

Drei unterschiedliche chinesische Modelle der Wirkungskräfte in der Welt des Tai Chi (Chuan).

Wer sich länger und intensiver mit Tai Chi Chuan (Taiji Quan) beschäftigt hat, weiß längst, dass diese Bewegungskunst keine reine körperliche Angelegenheit darstellt, sondern viele andere – auch „innere“ – →Aspekte umfasst und deshalb auch als „Weg“ oder „Methode“ (chinesisch: →Chuan bzw. Quan) gilt.

Hauptaspekt Chi und Chi-Fluss

Einen Hauptaspekt bildet dabei das →Chi (Qi) und der Chi-Fluss, sowie dessen Auswirkungen (chinesisch: „→chin„).

Man kann durchaus sagen, dass das „Wissen um“, bzw. das „Verständnis von“, sowie die „Anwendung des“ Energiephänomens, welches im modernen westlichen Sprachschatz keinerlei Entsprechung findet, die wesentlichen Faktoren zur Beherrschung der „inneren Kampfkunst“ darstellen.

Da aber „innere Vorgänge“ (mentale, geistige, seelische Dinge) sich sehr schwer in objektiv, allgemein gültige – sprich: materialistisch, „greifbare“ – Dinge oder Begriffe umsetzen lassen, sondern hauptsächlich subjektiv empirisch, erfasst und auch vermittelt werden können, greift man hierbei auf Allegorien, Metaphern und Symbole zurück.

In der Praxis – sprich: bei der Anwendung und Ausübung von Tai Chi (Chuan) – ist es selbstverständlich erforderlich, dass jene verwendeten „Ersatzbeschreibungen“ und natürlich auch die dabei verwendeten Symbole, ineinander und untereinander „stimmig“ sind, um den (dahinterstehenden) Sachverhalt möglichst auch als (Arbeits-)Modell nutzen und anwenden zu können.

Anmerkung:
Ein Modell ist ein aufgrund von Daten (Informationen) zusammengestelltes Abbild eines Sachverhaltes, mit welchem man Vorgänge, Abläufe, Arbeitsvorgänge, etc., leichter und einfacher vornehmen oder beschreiben kann, ohne sich jedesmal um eine exakte Definition von Einzelheiten kümmern zu müssen, welche für die aktuelle Zielsetzung (Arbeit, Vorgänge) von untergeordnetem Interesse bzw. Wichtigkeit sind.

D.h.: Modell und Sachverhalt („die Wirklichkeit“) müssen gar nicht absolut identisch sein – Sofern das Modell seinem beabsichtigten Zweck genüge tut.

Exkurs:
Ein gutes Beispiel hierfür wäre das Bohr’sche Atommodell, ein Atom „sieht“ in der Realität gar nicht so aus, aber…

Ein anderes Beispiel, für Computerfreaks, wäre die Objektorientierte Programmierung, welche einerseits mit völlig abstrakten Begriffen umgeht und andererseits gerade dadurch(!) wesentlich leichter, konkrete Aufgaben mittels Software und Computer bewältigen lässt.
[Na also: Auch wieder: „yin und yang“ 😉 ].

Drei Modelle aus Überlieferung und Aufzeichnung

Aus den gesammelten chinesischen Überlieferungen, den verschiedenen Aufzeichnungen (Anleitungen, Beschreibungen, Büchern) sowie Aussagen von „Vertretern“ (Familienstile, Schulen, Meister, Trainer, Lehrer, Philosophen) welche sich mit (klassischen) chinesischen Künsten befassen, kann eine enorme Menge Informationen entnommen werden, selbst wenn man sich auf den Hauptaspekt (Chi und Chi-Fluss) und Wirkungsweisen konzentriert.

Trotz differierender Lehrmeinungen, sowie unzähliger, teils unvollständiger Aussagen darüber, lassen sich prinzipiell drei eigenständige und unterschiedliche Denkansätze zusammenfassen und somit als unterscheidbare Modelle zur Erklärung und Anwendung der Chi-Energie zusammenfassen, welche in der heutigen Zeit als Grundlage dienen.

Man kann diese somit als Grundmodelle des zeitgenössischen Tai Chi (Chuan) bezeichnen.

Wichtige Bemerkung:
Es geht hier nicht um →Stile, sondern „Energiearbeit“!

Diese drei Grundmodelle sind:

  1. Das Modell der Wandlungsphasen
    (aktuell verwendet im Qi Gong und der TCM)
  2. Die „Energien des Taiji“ (vermutlich: nach Chen Gong),
    sowie
  3. Die „Ba Gua“
    (als nachweislich „ältesten“ Ursprung mit erstmaliger Erwähnung im „I Ging“, dem „Buch der Wandlungen“)

1. Das Modell der Wandlungsphasen

Das Modell der Wandlungsphasen findet heutzutage hauptsächlich seine Anwendung in dem seit den 1950er Jahren von einem chinesischen Arzt „erfundenen“ System des modernen Qi Gong. Darüber hinaus findet es sich in allen „artverwandten“ Betätigungen der chinesischen Heilkünste und chinesischer Medizin moderner Prägung.

Grundlage dieses Erklärungsmodells sind die (heutzutage) so genannten fünf chinesischen „Elemente“.

Eigentlich ist die Bezeichnung „Element“ dabei ein Übertragungsfehler, welcher sich dennoch im Westen hartnäckig hält.

Denn es handelt sich dabei um „fünf Wandlungsphasen“ (chinesisch: „Wu hsing“ oder auch „Wuxing“).
Das Wort „Wu“ steht für „fünf“ und „hsing“ (bzw. „xing“) bedeutet soviel wie: „Benehmen“, „Verhalten“ oder auch „reisen“.

Diese Wandlungsphasen gehen zwar indirekt ebenfalls auf die „polaren →Komplementäre“ („→yin und →yang„) zurück, haben sich aber als „moderne Interpretation“ völlig vom Ursprung (dem „→I Ging„) gelöst.

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Exkurs:
Durch die starke Verbindung mit dem →Gesundheitsaspekt, finden sich daher beim (modernen) Qi Gong eben auch viele Lehren der TCM (der Traditionellen Chinesischen Medizin), sowie aller damit einhergehenden Themenkomplexe, wie Akupunktur, Moxibustion, Kräuterkunde, Ernährung, etc., welche übernommen bzw. eingebunden werden. Dementsprechend vielfältig gestalten sich auch die Erklärungen und Definitionen einzelner, detaillierter Vorgänge.

Nur zum Beispiel: Die TCM kennt über 6.000 Akkupunkturpunkte am menschlichen Körper, wobei ausgesagt wird, dass ein durchschnittlich begabter Akkupunkteur die Lage, den Zweck und die Behandlungsmethoden von mindestens 1.200 Akkupunkturpunkten zu beherrschen hätte.

Im gesundheitsorientierten Bereich findet sich darüber hinaus die Unterscheidung verschiedenster Chi-Arten (z.B.: äußeres, inneres, vor- und nachgeburtliches, „positives“ und „negatives“ Chi, u.v.a.). Daneben sind vielfältige und mehr oder weniger wichtige Körperregionen und Bereiche (Meridiane, „Chi-Zentren“, „Organe“ und Wirkungskreise, etc.) im Detail zu beachten.

Kurzfassungen zu jenen Themen findet man in den Glossareinträgen zu →TCM bzw. →Qi Gong.
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2. Die „Energien des Taiji“

Der Begriff „Energien des Taiji“ wurde vermutlich erstmals vom Chinesen mit Namen Chen Gong begründet, welcher laut „Vertreter“ (besser gesagt: „Verbreiter“) seiner Kunst und seiner Weisheit, auch unter dem Namen Yearning K. Chen als auch unter Chen Yan Lin bekannt und im Jahre 1906 geboren sein sollte.

Unter jenem Namen – oder auch: Mit jenem Namen – wurden mehrere Bücher veröffentlicht, worin aber weder über seine Person noch über sein Leben etwas preisgegeben worden ist.

Vermarktet werden dessen(?) Bücher mit dem Aufhänger, dass er darin bislang geheim gehaltene Trainingsinformationen der Familie Yang zugänglich mache, welche ihm als (vorgeblicher?) Schüler →Yang Cheng-Fu’s zugänglich waren und welche er selbst erstmals schon 1943 in China sozusagen als „Raubkopie“ veröffentlicht habe. Chen Gong sollte in den 1980er Jahren (noch?) in Shanghai gelebt haben, aber war für niemanden dort anzutreffen, weil er die Anonymität vorzog.

Anmerkung: Sehr *strange* – nicht wahr? Mich persönlich erinnert das Ganze schon fast an die Einleitung der indischen Bhagavaghita, in welcher ausgesagt wird, dass alles folgende – der Inhalt der Lehre – auf der Erzählung eines Blinden beruhe, welcher sowohl Krishna selbst, als auch dessen Macht und Wirken, mit eigenen Augen gesehen habe. 😉

Nun gut.

Was ist unter dem Modell der „Energien des Taiji“ zu verstehen?

Die „Energien des Taiji“ können als punktuelle Aufzählung von chin – Kräften, welche mit bestimmten Bewegungsabläufen („Stellungen“) des Tai Chi Chuan (Taiji Quan) einhergehen – oder auch damit selbst definiert werden – gesehen werden.

Als Grundlage werden Zitate und Aussagen bekannter alter chinesischer Meister (u.a.: Yang Cheng Fu) herangezogen, welche zur Erklärung der dabei benannten „inneren Energien“ (chinesisch: „Nei Jin“) – im Detail eben einfach(!): Chi, chin und →shen – dienen und schließlich die „wesentlichen Energien des Taiji-Quan“ – sozusagen – „hervorbringen“ (sollen).

Jene „wesentlichen Energien“ werden dabei exemplarisch gelistet angeführt:

Bezeichnung Alternative
Schreibweise
Übersetzung
Zhan Nian Chan Nien „anhaftend und klebend“
Ting   „hörend“
Dong Tung „interpretierend“
Zuo Tsou „aufnehmend“
Jie Chieh „entlehnend“
Hua   „neutralisierend“
Yin In „verleitend“
Na   „ergreifend“
Fa   „ausstoßend“
Peng P’eng „nach außen und oben“
Lu Liü „zurückrollend“
Ji Chi „drückend“
An   „schiebend“
Cai Tsai „ziehend“, „wiegend“
Lie Lieh „spaltend“
Chou Zhou „mit dem Ellbogen“
Kao   „mit der Schulter“
Kai K’ai „öffnend“
He Ho „schließend“
Ti T’i „steigend“ oder „hebend“
Chen   „sinkend“
Jie Chieh „abfangend“
Zuan Tsuan „bohrend“
Bo Po „abstreifend“
Cuo Ts’o „verdrehend“
Quan Ch’uan „brechend“
Zhuan Chuan „erfassend“
Leng   „kalt“
Tuan Duan „unterbrechend“
Cun Ts’un „kurz“
Fen   „trennend“
Tou Tiao Dou Tiao „schüttelnd schraubend“
Tou Ao Dou Ao „geschickt schüttelnd“
Zhe Die Che Tih „zusammenfaltend“
Ca Ts’a „reibend“
Pi P’i „schälend“
Xu Hsu „täuschend“
Lin   „nahekommend“
Chang Zhang „lang“
Ling Kong Ling Gong „pure Leere“

Diese „Energien des Taiji“ sollten entsprechend im →Tui Shou, →Ta Liü und →San Shou trainiert werden und damit zu den jeweiligen „Energiewirkungen“ – eben: chin – werden: Ting chin, Tung chin, Jie chin, Na chin, …, Fa chin, usw. usf.

Wie man dieser Auflistung leicht entnehmen kann, finden sich unter den Begriffen nebst Wörtern aus den Bezeichnung der „klassischen →Grundtechniken“ auch allgemein im Tai Chi (Chuan) verwendeter – und anders besetzter(!!!) – Wörter, beispielsweise „Yin“, „Chi“ oder „Chuan“.

Anm.: Also ideal um noch mehr Verwirrung zu stiften!

Dem „Erfindungsreichtum“ sind dabei keinerlei Grenzen gesetzt und geschickte „Lehrer jenes Modells“ – welches jetzt schon 41 „Energien“ umfasst – werden auch in Zukunft allerlei „neue Energien“ – sprich: Bezeichnungen für einzelne (körperliche) Stellungen und Anwendungen, sowie deren „Eigenschaften“ – finden.

Jenes Modell sollte die „innere Kampkunst“ des Tai Chi (Chuan) vermitteln, folgt jedoch der allseits bekannten Lehr- und Lernmethode der „äußeren“ Kampfkünste: Einzelne, körperliche Techniken, die immer einem ganz bestimmten Zweck dienen, werden einzeln nacheinander vermittelt und ebenso angegeignet.

Es macht wenig Unterschied, dass man dabei eben einzelne Bewegungsabläufe des Tai Chi Chuan behandelt, welche darin vorgefunden werden und sich mit entsprechenden „Energien des Taiji“ (sprich: „Eigenschaften“) etikettieren lassen.

Grob gesagt: Ein Schüler hat jene „Liste“ auswendig zu lernen und nacheinander auch praktisch „abzuarbeiten“.

Die tatsächlichen Hintergründe und Wirkungsweisen von Tai Chi (Taiji) können bei diesem Arbeitsmodell wunderbar einfach verschwiegen, super „verklausuliert“ , als „mystisch“ dargestellt oder sogar vollständig „unerwähnt“ und „ungenannt“ bleiben, weil der Schüler sich sehr lange auf viele Einzeldetails bzw. Einzelabläufe konzentrieren muss.

Der Gesamtzusammenhang (→TAI CHI) ergäbe sich damit erst im Laufe vieler Jahre, falls(!) der Schüler jemals alles beherrscht.

Anmerkung:
Nach dem Motto: Wer es nicht versteht, ist selbst schuld und sollte sich einfach noch mehr Einzelheiten aneignen und noch viel mehr üben!

Das Fatale dabei:
Es ist keineswegs „alles falsch“ und jeder Schüler jener Richtung kann durchaus viele Erfahrungen bei engagierten Lehrern machen und auch Fortschritte erzielen. Jener Weg führt jedoch über viele Umwege und Stolpersteine, die im Grunde nicht notwendig sind.

3. Die „Ba Gua“

Die Ba Bua (manchmal auch: Pa Kua) können nachweislich als Modell mit „ältestem“ Ursprung in erstmaliger Erwähnung im „I Ging“, dem „Buch der Wandlungen“, gesehen werden.

Das chinesische Wort „Ba“ bedeutet übersetzt die Zahl „Acht“. „Gua“ kann mit „Manifestation“ oder „Wirk-Kraft“ übersetzt werden.

„Ba Gua“ bedeutet also „Acht Manifestationen“ oder schlicht: „Acht Kräfte“.

Das zugehörige Symbol ist eine Zusammenstellung aus dem Symbol für →TAI CHI, mit der allseits bekannten Darstellung von →yin und →yang im Zentrum, umgeben von acht →Trigrammen („3-Strich-Code“), stellvertretend für die Acht Grundtechniken, welche wiederum die „Gua“ darstellen. Dieses zusammengesetzte Symbol wird deshalb ebenfalls als „→Bagua“ (andere Schreibweise: „Pakua“) bezeichnet.

Wie im Symbol der Bagua leicht erkennbar, kommt dem TAI CHI selbst die Kernbedeutung zu.

Das Symbol wird auch zur „Kernaussage“:

Das Zentrum bildet „yin und yang“ (= „TAI CHI“, übertragen auch mit: „Das Allerhöchste“ oder „Der Firstbalken“). Von diesem Zentrum ausgehend, „strahlen“ sozusagen Mischungen (sprich: Manifestationen) von yin und yang aus.

yin wird mit einem unterbrochenen Strich, yang mit einem durchgezogenen Strich dargestellt. Nach zwei „Mischungsphasen“ yin und yang (2 „Pole“ x 2 x 2) werden die 8 Manifestationen für den Menschen sichtbar. Dies sind die umgebenden Trigramme.

„Auf einem Blick“ ist alles sichtbar: TAI CHI, →yin und →yang, die 8 Manifestationen (= 8 Grundtechniken, →die „Ba Gua“), die Zusammensetzung jener Grundtechniken (sprich: Deren Inhalt und Wesen).

Anmerkung:
Natürlich erschließt sich die Bedeutung dieses Symboles, nur demjenigen, der sich auch damit auseinandersetzt und es für sich selbst „erarbeitet“. Dies ist auch ein Grund dafür, dass im Laufe vieler Chinesischer Generationen, etliche Interpretationen entstanden sind und einige „Neufassungen“.

Darüber hinaus wurden die Grundtechniken in der Anwendung – für Nichteingeweihte – mit Tiernamen und Natursymbolen verschlüsselt, um die Geheimnisse der Kampfkunst als Machtmittel zu erhalten. (Siehe dazu auch: →Warum haben Taichi-Übungen so seltsame, blumige Namen?)

Manchmal ist es einfach wichtig, dass bestimmte Dinge so belassen werden, wie sie sind und Menschen dafür Sorge tragen, dass das, was von essentieller Bedeutung für den Menschen und sein Leben auf der Erde sein kann, unverändert und „im Original“ erhalten bleibt.

Mit einem alten Werbespruch:
Es ist einfach nur TAI CHI drin, wo auch TAI CHI draufsteht!

Tai Chi Chuan – heisst übersetzt
eben auch: „Der Weg des TAI CHI“ !

Mitglieder und Förderer

Für unsere registrierten Mitglieder und Förderer ist die Dokumentation“Die Acht Grundtechniken – Ba Gua Chang” als e-Book (im praktischen PDF-Format) im Download (Rubrik: →Fortgeschrittene) verfügbar.

Auf 56-Seiten im DIN-A4-Format findet sich eine detaillierte Beschreibung der Acht “Grundtechniken” sowie deren Anwendung, inklusive 17 grafischen Darstellungen sowie 12 umfangreichen Übersichtstabellen (Bezeichnungen, „Energieform“, Imagination, Komplementär, Tiersymbole, Körperstellung/Technik, u.a.m.)
– Ein unentbehrliches Nachschlagewerk für den fortgeschrittenen Tai Chi-Schüler – nur für registrierte Mitglieder.

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